Mosaik – Der Geschichte auf der Spur
Mosaik – Der Geschichte auf der Spur, J. Cornelissen, M. Ehrenfeuchter, C. Henzler, M. Tocha und H. Winter (Hrsg.), Ausgabe A, Bd. 5., Schülerband, 160 S., Oldenbourg Schulbuchverlag GmbH, München 2008, ISBN 978-3-486-02140-0
Einleitung
Auf die neuen Geschichtslehrbücher für die zehnten Klassen des Gymnasiums in Baden-Württemberg durfte man gespannt sein. Denn mit der Bildungsplanreform des Jahres 2004 war für diese Klasse eine völlige Neukonzeption des Geschichtsunterrichts vorgesehen, die im Schuljahr 2009/2010 erstmals didaktisch und methodisch umgesetzt werden wird [1]index.php?id=739&L=0#_ftn1. Die „neue“ zehnte Klasse soll im Geschichtsunterricht des baden-württembergischen Gymnasiums, der im Zuge der Reform in die sechste Klasse vorverlegt wurde, eine Brückenfunktion zwischen der Sekundarstufe I (Klassen 6–9) und der Kursstufe (Klassen 11–12) haben[2]index.php?id=739&L=0#_ftn2. Nach Abschluss des ersten chronologischen Durchgangs in Klasse 9 soll in Klasse 10 gemäß Bildungsplan ein „zweiter Durchgang“ durch die Geschichte von der Antike bis zur Aufklärung unter dem Leitthema „Vielfalt und Einheit Europas“ erfolgen. Dieser Durchgang soll das, was in den Klassen 6–9 an „Stoff“ gelernt worden war, nicht einfach wiederholen, sondern auf einer anderen Ebene und unter neuen Perspektiven sichern, vertiefen und ergänzen.
Konzeption und Bildungsplanbezug
Das Besondere des Lehrbuches, das der Oldenbourg Schulbuchverlag 2008 herausgebracht hat, liegt nun darin, dass es diese „offene Konzeption“ nicht chronologisch, sondern systematisch bzw. „strukturalistisch“ umsetzt, was allerdings, wenn man sich die rudimentären Vorgaben des didaktisch deregulierten Bildungsplans mit den mageren Leitbegriffen „Formen der Identitätsbildung“, „Antike Wurzeln Europas“, „Formierung Europas im Mittelalter“ und „Aufbruch Europas in die Moderne“ näher anschaut[3]index.php?id=739&L=0#_ftn3, konzeptionell auch kaum anders möglich gewesen sein dürfte.
In fünf ausgewählten thematischen Längsschnitten, die im Einleitungsteil des Buches vorgestellt werden, wird die europäische Geschichte vom 8. Jh. v. Chr. bis zum 18. Jh. n. Chr. historisch-systematisch unter ausgewählten Kategorien erschlossen. Es geht nicht primär um Daten, Fakten und Ereignisse, sondern um umfassende Zusammenhänge und Strukturen, die die Autorinnen und Autoren treffend als „Fluchtpunkte der europäischen Geschichte“ (S. 14) bezeichnen.
Damit ist das didaktisch-methodische Ziel des Lehrwerkes bezeichnet. Es will zur historischen „Identitätsbildung“ der Kinder und Jugendlichen in einem modernen Europa beitragen. So weit, komplex und umfassend der historische Horizont des vorliegenden Lehrwerkes auch ist, so übersichtlich, strukturiert und handlich kommt das Buch insgesamt daher. Auf 160 Seiten werden die Vorgaben des Bildungsplans didaktisch und methodisch angemessen umgesetzt. Großer Wert wird dabei auf die im Rahmen des Geschichtsunterrichts zu vermittelnden Kompetenzen gelegt. Auch Methodenelemente, die selbstständiges Lernen initiieren sollen, sind selbstverständlich in das Lehrwerk integriert (S. 31, 69 und 145). Was Einband, Layout und Druckqualität der Bilder, Grafiken und Karten anbelangt, so ist ein durchaus anspruchsvolles Schulbuch entstanden, das nicht nur in jeden Schulranzen passt, sondern auch für Lehrer und Schüler handhabbar sein dürfte.
Aufbau, Fachbezug sowie methodisch-didaktische Aspekte
Was den Formalaufbau des Lehrwerkes angeht, so fällt zunächst positiv auf, dass das vorliegende Werk nicht, wie das ansonsten üblich ist, mit dem Inhaltverzeichnis beginnt, sondern mit einem einführenden Autorentext (S. 3–7), der „ausgewählte Mosaiksteine“ (S. 3) der europäischen Geschichte von der Antike bis zur Aufklärung knapp vorstellt. Hier wird Geschichte „erzählt“, bevor sie auf die Schülerinnen und Schüler „niederstürzt“. Dieser „narrative Einstieg“ in die Jahrgangsthematik kann insofern als gelungen bezeichnet werden, als er, flüssig, klar und verständlich geschrieben, nicht nur einen ersten groben Überblick über die Sachthemen des Lehrbuchs gibt, sondern zugleich knapp in deren Komplexität und Interdependenz einführt. Wer mit dem Buch arbeitet, weiß mithin sofort, was inhaltlich (und auch methodisch) auf ihn zukommt. Die Einzelthemen werden auf der Ebene des einführenden Darstellungstextes zwar in chronologischer Reihung dargeboten, lassen aber doch zugleich auf einen übergeordneten Sachzusammenhang schließen, der das Ganze trägt und perspektivisch ordnet.
Auf die erzählende Hinführung folgt dann eine Übersichtstabelle (S. 8 f.), die jedes Unterrichtsthema eines Längsschnittes chronologisch-systematisch verortet. Hier werden denn auch die traditionellen Epochenschablonen „Antike, Mittelalter und Neuzeit“, auf die man auch in einem strukturgeschichtlich und mehrperspektivisch angelegten Geschichtslehrbuch nicht ganz wird verzichten können, genannt. Vorherrschend ist jedoch auch hier die systematische Gliederung, die zwar durchaus ausgewählte Jahreszahlen und Ereignisse nennt und zeitlich wie systematisch zuordnet, aber diese doch unter übergeordnete Zusammenhänge subsumiert, die quer zu den chronologisch organisierten Epochen liegen und auf diese Weise für die Schülerinnen und Schüler epochenübergreifende Problem- und Sachzusammenhänge kenntlich machen.
Erst jetzt – nach der Übersichtstabelle – folgt das ausführliche Inhaltsverzeichnis (S. 10 f.). Es liefert die differenzierte Binnengliederung des Lehrwerkes mit Seitenzahlen zur gezielten Lektüre. Das Buch wird am Ende von einem Glossar (S. 152–155), einem Namen- und Sachregister (S. 156–159) sowie einem Bildquellenverzeichnis (S. 160) beschlossen.
Man darf an dieser Stelle bereits resümierend sagen: Europäische Geschichte wird hier nicht „additiv“, sondern „kumulativ“ als vernetzter Problem- und Diskurszusammenhang begriffen. Die Schülerinnen und Schüler sollen ausschnittweise historische Strukturen nicht nur erkennen, sondern auch verstehen, reflektieren und problematisieren lernen.
Der historische Durchgang beginnt denn auch mit Mythos und Philosophie und endet mit der Konfrontation unterschiedlicher Völker und Kulturen. Es geht u. a. um Macht und Politik, um Religion, Gesellschaft und Kultur, aber auch um Formen der Selbst- und Fremdwahrnehmung (Identität und Alterität). Mit diesen Kategorien werden grundlegende historische Orientierungsbedürfnisse befriedigt, die quer zu den überkommenen Fach- und Epochengrenzen liegen. Zugleich haben sie nicht unwesentlich zur Genese eines historisch-kritischen „europäischen Selbstbewusstseins“ (S. 14) beigetragen.
Insofern ist es aus der Sicht der modernen Geschichtsdidaktik ja auch relativ „sinnlos“ gewesen, die Antike, das Mittelalter und die anbrechende Neuzeit in der Schule nach Jahrgangsstufen geordnet abzuhandeln und dann gewissermaßen als „monolithische Blöcke“ unverbunden in den Schülerhirnen „ruhen“ zu lassen. Historie ist einstmals vergangenes Leben gewesen, das nicht nur auf komplexe Weise mit unserer Gegenwart zusammenhängt, sondern auch im Unterricht „vernetzt“ behandelt werden muss, soll es zu Orientierung in unserer Gegenwart beitragen.
Das didaktisch-methodische Konzept der Autoren, wie es knapp auf S. 14 dargelegt wird, entspricht dieser modernen Auffassung von Geschichtsunterricht. Es versteht Geschichte als Deutung der Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart. Das moderne Europa, das historisch-systematisch unter den Leitkategorien „Mensch“ (als Einzel-, Gemeinschafts- und Vernunftswesen), „Herrschaft und Recht“, „Kirche und Staat“, „Expansion und Kulturbegegnung“ sowie „Identität“ (Selbst- und Fremdverstehen) erschlossen werden soll, wird – das ist die Grundprämisse des Buches – als „Wertegemeinschaft“ (z. B. Menschenrechte, Demokratie, Toleranz) verstanden, deren historische Genese von den Jugendlichen unter verschiedenen Perspektiven nachvollzogen werden soll.
Damit ist ein kontroverser Ausgangspunkt gewonnen, der als erster Anhalt für den Unterricht dienen kann. Im Unterricht geht es denn auch darum, die Europavorstellung, wie sie sich in der Antike ausgebildet und bis ins 18. Jh. auf vielfältige Weise fortentwickelt und erweitert hat, wenigstens ansatzweise zu reflektieren und „historisch einzuholen“. Das geschieht, wie bereits betont, über fünf ausgewählte Sachthemen, „die dann als Längsschnitte über mehr als 2000 Jahre hinweg verfolgt werden“ (S. 14).
Schüleradäquate Umsetzung
Wie versucht das Lehrbuch den Schülerinnen und Schülern diese komplexen Zusammenhänge zu vermitteln? Die fünf Großkapitel, die den Längsschnittthemen entsprechen, werden jeweils mit doppelten Auftaktseiten eröffnet, die über zumeist großformatige Bilder den Zugang zur nachfolgenden Geschichte eröffnen. Die Unterkapitel umfassen je zwei Seiten. Die erste ist dem Autorentext vorbehalten, die zweite ist in der Regel für 3–4 Bild- und Textmaterialien reserviert. Am Ende jedes Unterkapitels finden sich jeweils 4–5 Aufgabenstellungen, die sich auf die Materialien beziehen und von den Schülerinnen und Schülern selbstständig zu erarbeiten sind. Am Ende jedes Großkapitels wird, um nachhaltiges und effizientes historisches Lernen zu initiieren, stets „zusammengefasst“, „gesichert“ und „vertieft“.
Das ist ein klarer und übersichtlicher Formalaufbau, der sich jedem Schüler schnell erschließen dürfte, aber auch die konkrete Arbeit mit dem Buch erleichtert und das Lernen unterstützt. Eine andere Frage ist, wie die modernen Schülerinnen und Schüler mit der relativ starken Textlastigkeit der zahlreichen Unterkapitel umgehen. Grundsätzlich ist der wissenschaftspropädeutische Ansatz, der auf Text und Schrift abhebt, im Geschichtsunterricht zwar zu begrüßen, aber für moderne Jugendliche, die stark durch elektronische Bildmedien geprägt sind, dürfte er nicht unproblematisch sein, zumal dann, wenn sie selbstständig mit den Textmaterialien arbeiten sollen, diese aber wegen mangelnder Lesekompetenz nicht angemessen verstehen und interpretieren können. Das gilt in erhöhtem Maße für fremdsprachige Texte (z. B. S. 37), die einen fächerverbindenden Ansatz nahelegen.
Was die Gesamtkonzeption des Werkes betrifft, so zeigen das erste und das letzte Längsschnittthema, dass die Autorinnen und Autoren methodisch einem historisch-anthropologischen Ansatz verpflichtet sind, der den Menschen und seine Belange (Herrschaft, Gesellschaft, Religion und Kultur) ins Zentrum stellt. Letztlich geht es um „das“ europäische Menschenbild, um Identität und Alterität, um Selbst- und Fremdwahrnehmung, um machtpolitische, religiöse und interkulturelle Zusammenhänge, die Europa historisch und kulturell bestimmt und geprägt haben. Dass das Buch in sich logisch und konsistent aufgebaut ist, erhellt daraus, dass es mit der „Suche nach einem europäischen Menschenbild“ (S. 14) in der Antike beginnt und mit der „Suche nach einer europäischen Identität“ (S. 132) in der Moderne endet. Es existiert ein durchgehender Problemzusammenhang, der sich auch den Jugendlichen erschließen dürfte.
Die Schülerinnen und Schüler stellen fest, dass „Europa“ für Homer noch etwas anderes war und bedeutete als für Herodot, Karl Martell, Karl den Großen oder Immanuel Kant. Daraus folgt: Die moderne Europa-Vorstellung, die wir heute besitzen, ist nicht selbstverständlich, sondern historisch entstanden. „Europa“ ist in seiner Geschichte jedenfalls nie eine Einheit gewesen und auch bis heute keine Einheit in dem Sinne geworden, wie es die „Nationen“ ehedem waren. Dennoch gibt es offenbar gewisse „Grundtatbestände“, die den „europäischen Menschen“ und seine wechselvolle Geschichte, wenn man das einmal so pauschal formulieren darf, bestimmen und ausmachen. Auf diese wollen die Autorinnen und Autoren in ihrem Buch hinweisen. Sie sprechen in diesem Zusammenhang zu Recht von einer „Wertegemeinschaft“ (S. 14), die sich sukzessive herausgebildet habe.
Europa als Problem
Dieser methodische Ansatz soll bei den Schülerinnen und Schülern den historischen Blick für die „Widersprüchlichkeit der Tatsachen und die Offenheit der Entwicklung“ (S. 14) schärfen. Eine teleologische Geschichtsauffassung, die das moderne Europa als „natürliches“ oder „zwangsläufiges“ Ziel der europäischen Geschichte ausgibt, wird nicht nur abgelehnt, sondern auch problematisiert. Die europäische Geschichte, so das Resümee des Buches, hätte auch anders verlaufen können. Es geht, wie die Autoren betonen, nicht zuletzt darum, zu erkennen, dass sich das moderne Europa, wie es sich uns heute darstellt, letztlich einer „glücklichen Wendung“ (S. 14) der Geschichte verdankt. Dies modernen Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, dürfte keine geringe Aufgabe für den Geschichtsunterricht der Gegenwart sein. Das vorliegende Lehrbuch macht einen wichtigen Schritt in diese Richtung.
Prof. Dr. Thomas Martin Buck
Juni 2008
index.php?id=739&L=0#_ftnref1[1] Bildungsplan 2004. Allgemein bildendes Gymnasium. Baden-Württember, hg. vom Ministerium für Kultus, Jugend und Sport in Zusammenarbeit mit dem Landesinstitut für Erziehung und Unterricht Stuttgart, Ditzingen 2004, S. 219 und 225 f.
index.php?id=739&L=0#_ftnref2[2] Vgl. Thomas Martin Buck, Bildungsplanreform und Geschichtsunterricht in Baden-Württemberg, in: Lehren und Lernen. Zeitschrift für Schule und Innovation in Baden-Württemberg 31 (2005) S. 23–32.
index.php?id=739&L=0#_ftnref3[3] Bildungsplan 2004, S. 225 f.